Das war ein Tag der Schmerzen,
Als ich einst Abschied nahm;
Noch bänger war's dem Herzen,
Als ich nun wieder kam. 
Der ganzen Wandrung Hoffen
Vernichtet mit einem Schlag! 
O, unglücksel'ge Stunde! 
O, unheilvoller Tag! 

Ich habe viel geweinet
Auf meines Vaters Grab,
Und manche bittre Thräne
Fiel auf die Gruft herab. 
Mir ward so öd' und traurig
Im theuren Vaterhaus,
So daß ich oft bin gangen
Zum düstern Wald hinaus. 

In seinen Schattenräumen
Vergass ich allen Schmerz;
Es kam in stillen Träumen 
Der Friede in mein Herz. 
Der Jugend Blüthenwonne, 
Rosen und Lerchenschlag
Erschien mir, wenn ich schlummernd 
Im Schatten der Eichen lag.

1859

Veröffentlicht in Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922, S. 9

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Ihr Vöglein in den Lüften,
Schwingt mit Gesang euch fort
Und grüsset mir den theuren,
Den lieben Heimatsort! 

Ihr Lerchen, nehmt die Blüthen,
Die zarten, mit hinaus! 
Ich pflückte sie zur Zierde
Für's theure Vaterhaus. 

Du Nachtigall, o schwinge 
Dich doch zu mir herab
Und nimm die Rosenknospe
Auf meines Vaters Grab!

1858

Veröffentlicht in Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922, S. 5

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Das milde Abendläuten
Hallet über das Feld. 
Das will mir recht bedeuten,
Dass doch auf dieser Welt
Heimat und Heimatglück 
Wohl Keiner je gefunden:
— Der Erde kaum entwunden,
Kehr'n wir zur Erde zurück. 

Wenn so die Glocken hallen,
Geht es mir durch den Sinn,
Dass wir noch Alle wallen
Zur ew'gen Heimat hin. 
Glücklich, wer allezeit
Der Erde sich entringet
Und Heimatlieder singet
Von jener Seligkeit.

1859

Veröffentlicht in Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922, S. 12

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(...) Und  wenn  ich  jenseits  der Alpen  sage,  sage  ich  eigentlich  nur  Venedig.  Wenn  ich ein  andres  Wort  für  Musik  suche,  so  finde  ich  immer nur  das  Wort  Venedig.  Ich  weiss  keinen  Unterschied zwischen  Thränen  und  Musik  zu  machen,  —  ich  weiss  das Glück,  den  Süden  nicht  ohne  Schauder  von  Furchtsamkeit zu  denken.
An  der  Brücke  stand
jüngst  ich  in  brauner  Nacht.
Fernher  kam  Gesang;
goldener  Tropfen  quoll's
über  die  zitternde  Fläche  weg.
Gondeln,  Lichter,  Musik  —
trunken  schwamm's  in  die  Dämmrung  hinaus  .  .  .

Meine  Seele,  ein  Saitenspiel,
sang  sich,  unsichtbar  berührt,
heimlich  ein  Gondellied  dazu,
zitternd  vor  bunter  Seligkeit.
—  Hörte  Jemand  ihr  zu?  .  .  .

1888

Aus Ecce homo. Friedrich Nietzsche

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Es geht ein Wandrer durch die Nacht
Mit gutem Schritt;
Und krummes Thal und lange Höhn –
Er nimmt sie mit.

Die Nacht ist schön –
Er schreitet zu und steht nicht still,
Weiß nicht, wohin sein Weg noch will.
Da singt ein Vogel durch die Nacht:
“Ach Vogel, was hast du gemacht!
Was hemmst du meinen Sinn und Fuß
Und gießest süßen Herz-Verdruß
In's Ohr mir, daß ich stehen muß
Und lauschen muß — —

Was lockst du mich mit Ton und Gruß?” —
Der gute Vogel schweigt und spricht:
“Nein, Wandrer, nein! Dich lock' ich nicht
Mit dem Getön –
Ein Weibchen lock’ ich von den Höhn –
Was geht's dich an?

Allein ist mir die Nacht nicht schön.
Was geht's dich an? Denn du sollst gehn
Und nimmer, nimmer stille stehn!
Was stehst du noch?
Was that mein Flötenlied dir an,
Du Wandersmann?”

Der gute Vogel schwieg und sann:
“Was that mein Flötenlied ihm an?
Was steht er noch? –
Der arme, arme Wandersmann!”

1884

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort! –
Die Sonne schleicht zum Berg
Und steigt und steigt
und ruht bei jedem Schritt.
Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh –
Er klagt ihr nach.

Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz.
Fliege fort! fliege fort!
Oh Frucht des Baums,
Du zitterst, fällst?
Welch ein Geheimniß lehrte dich
Die Nacht,
Daß eis'ger Schauder deine Wange,
Die Purpur-Wange deckt? —
Du schweigst, antwortest nicht?
Wer redet noch? — —

Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz.
Fliege fort! fliege fort! –
„Ich bin nicht schön
– so spricht die Sternenblume –
Doch Menschen lieb' ich
Und Menschen tröst' ich –
sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
nach mir sich bücken
ach! und mich brechen –
in ihrem Auge glänzet dann
Erinnrung auf,
Erinnerung an Schöneres als ich: —
— ich seh's, ich seh's — und sterbe so.” —

Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!

1884

Originaltitel: Im deutschen November.

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Die Sonne schleicht zum Berg
Und steigt und steigt
und ruht bei jedem Schritt.
Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh –
Er klagt ihr nach.

1884

Originaltitel: Im deutschen November.

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Der Tag klingt ab, es gilbt sich Glück und Licht,
Mittag ist Ferne.
Wie lange noch? Da kommen Mond und Sterne
Und Wind und Reif: nun säum’ ich lange nicht,
Der Frucht gleich, die ein Hauch vom Baume bricht

1885

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1885. Friedrich Nietzsche

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Es erhob sich ein Geschrei um Mitternacht –
das kam von der Wüste her

1884

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut —, sein Leben ist sein Kaun…

Vergiss nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht:
du — bist der Stein, die Wüste, bist der Tod…

1888

Aus den Dionysos-Dithyramben. Friedrich Nietzsche: Nietzsche's Werke, Band VIII. C.G. Naumann, Leipzig 1906, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

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Von ferne tönt der Glockenschlag,
Die Nacht sie rauscht so dumpf daher.
Ich weiss nicht, was ich thuen mag;
Mein' Freud' ist aus, mein Herz ist schwer.

Die Stunden fliehn gespenstisch still,
Fern tönt der Welt Gewühl, Gebraus.
Ich weiss nicht, was ich thuen will,
Mein Herz ist schwer, mein Freud' ist aus.

So dumpf die Nacht, so schauervoll
Des Mondes bleiches Leichenlicht.
Ich weiss nicht, was ich thuen soll.
Wild rast der Sturm, ich hör' ihn nicht.

Ich hab' nicht Rast, ich hab' nicht Ruh,
Ich wandle stumm zum Strand hinaus,
Den Wogen zu, dem Grabe zu,
Mein Herz ist schwer, mein Freud' ist aus.

1862.

Veröffentlicht in Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922, S. 91

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In Sonnengluth, in Mittagsruh
Liegt stumm das Hospital;
Es sitzt ein altes Mütterlein,
Am Fenster bleich und fahl. 

Ihr Aug' ist trüb, ihr Haar schneeweiss,
Ihr Mieder rein und schlicht,
Sie freut sich wohl und lächelt still,
Im warmen Sonnenlicht. 

Am Fenster blüht ein Rosenstock
Viel Bienlein rings herum,
Stört denn die stille Alte nicht 
Das emsige Gesumm? 

Sie schaut in all' die Sonnenlust 
So selig stumm hinein:
Noch schöner wird's im Himmel sein,
Du liebes Mütterlein!

1860

Veröffentlicht in Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922 S. 15

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Tag meines Lebens!
die Sonne sinkt.
Schon steht die glatte
   Fluth vergüldet.
Warm athmet der Fels:
   schlief wohl zu Mittag
das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf?
   In grünen Lichtern
spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.

Tag meines Lebens!
gen Abend geht’s!
Schon glüht dein Auge
   halbgebrochen,
schon quillt deines Thau’s
   Thränengeträufel,
schon läuft still über weisse Meere
deiner Liebe Purpur,
deine letzte zögernde Seligkeit…

1888

Aus den Dionysos-Dithyramben. Friedrich Nietzsche: Nietzsche's Werke, Band VIII. C.G. Naumann, Leipzig 1906, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

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Siebente Einsamkeit!
   Nie empfand ich
näher mir süsse Sicherheit,
wärmer der Sonne Blick.
— Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?
   Silbern, leicht, ein Fisch
schwimmt nun mein Nachen hinaus…

1888

Aus den Dionysos-Dithyramben. Friedrich Nietzsche: Nietzsche's Werke, Band VIII. C.G. Naumann, Leipzig 1906, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

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Nun, da der Tag
Des Tages müde ward, und aller Sehnsucht Bäche
Von Neuem Trost plätschern,
auch alle Himmel, aufgehängt in Gold-Spinnetzen,
zu jedem Müden sprechen: „ruhe nun”, –
was ruhst du nicht, du dunkles Herz,
was stachelt dich zu fußwunder Flucht
weß harrest du?

1884

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Dort der Galgen, hier die Stricke
Und des Henkers rother Bart,
Volk herum und gift'ge Blicke –
Nichts ist neu dran meiner Art!

Kenne dies aus hundert Gängen,
Schrei's euch lachend in's Gesicht:
Unnütz, unnütz, mich zu hängen!
Sterben? Sterben kann ich nicht!

Bettler ihr! Denn euch zum Neide,
ward mir, was ihr — nie erwerbt:
Zwar ich leide, zwar ich leide –
Aber ihr — ihr sterbt, ihr sterbt!

Auch nach hundert Todesgängen
Bin ich Athem, Dunst und Licht –
Unnütz, unnütz, mich zu hängen!
Sterben? Sterben kann ich nicht!

1884

Originaltitel: Yorick als Zigeuner.

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Nicht mehr zurück? Und nicht hinan?
Auch für die Gemse keine Bahn?
So wart' ich hier und fasse fest,
Was Aug' und Hand mich fassen läßt!
Fünf Fuß breit Erde, Morgenroth,
und unter mir — Welt, Mensch und Tod!

1884

Originaltitel: “Der Wanderer und sein Schatten.” Ein Buch

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Es erhob sich ein Geschrei um Mitternacht –
das kam von der Wüste her

1884

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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Hohl, Höhle, voller Gift und Nachtgeflügel
umsungen und umfürchtet,
einsam –

1884

Aus Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884. Friedrich Nietzsche

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"Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Totenstille!" –
So wolltest du's! Vom Pfade wich dein Wille!
Nun, Wandrer, gilts! Nun blicke kalt und klar!
Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.

1882

Aus Die fröhliche Wissenschaft, Friedrich Nietzsche, Verlag von Ernst Schmeitzner, Chemnitz 1882, S. 10

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Jetzt —
zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt,
ein Fragezeichen
ein müdes Räthsel —
Selbsthenker!

1888

Aus den Dionysos-Dithyramben. Friedrich Nietzsche: Nietzsche's Werke, Band VIII. C.G. Naumann, Leipzig 1906, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

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Ich sehe hinauf —
dort rollen Lichtmeere:
— oh Nacht, oh Schweigen, oh todtenstiller Lärm!…
Ich sehe ein Zeichen —,
aus fernsten Fernen
sinkt langsam funkelnd ein Sternbild gegen mich…

1888

Aus den Dionysos-Dithyramben. Friedrich Nietzsche: Nietzsche's Werke, Band VIII. C.G. Naumann, Leipzig 1906, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

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Ja! Ich weiss, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr’ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle Alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.

1882

Aus Die fröhliche Wissenschaft, Friedrich Nietzsche, Verlag von Ernst Schmeitzner, Chemnitz 1882, S. 19

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